Amartya Sens neuestes Buch handelt von Identität und ihrem Verhältnis zur Gewalt in der Welt.
Die Europäische Union hat 2008 zum Jahr des Interkulturellen Dialogs erklärt: Dieser Dialog sei nicht nur eine Grundvoraussetzung für gegenseitiges Verständnis, Respekt und sozialen Zusammenhalt, sondern auch für eine aktive Partizipation der BürgerInnen an der Gesellschaft sowie für wirtschaftlichen Wohlstand und Innovation.
Dem „Interkulturellen Dialog“ werde die Funktion eines Breitband-Antibiotikums zugeschrieben, kritisiert der Philosoph und Journalist Hakan Gürses.
Jetzt hat einer der ganz großen zeitgenössischen Denker, der 1933 in Indien geborene Wirtschaftwissenschaftler und Philosoph Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie, den Umgang mit dem Faktor Kultur in Buchform ins Visier genommen.
Revolutionär neu ist seine Kritik nicht: Kultur sei keinesfalls die „einzige Bestimmungsgröße“ in unserem Leben, sondern eine von vielen neben zum Beispiel Klasse, Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung, Beruf und politischer Einstellung. Der angeblich zentralen Bedeutung der Entdeckung, „zu wissen, wer man ist“, setzt Sen die Entscheidung gegenüber: „Wir müssen uns ständig entscheiden, wie in unserem Leben Raum geschaffen werden kann für verschiedene Loyalitäten.“ Sen: „Das auch nur stillschweigende Beharren auf einer alternativlosen Singularität der menschlichen Identität setzt nicht nur uns alle in unserer Würde herab, sondern trägt überdies dazu bei, die Welt in Flammen zu setzen.“
Besonders scharf kritisiert Sen die Reduktion von Menschen auf ihre Religionszugehörigkeit, insbesondere den Islam.
Sen schöpft aus einem riesigen Fundus von Faktenwissen und räumt auf mit der meist eurozentristischen Kulturdebatte (Stichwort „Verwestlichung“ – ob diese nun positiv oder negativ besetzt ist). Er betont das vorhandene gemeinsame Erbe der gesamten Menschheit: An Toleranz, Demokratie oder Wissenschaft habe der Westen kein geistiges Eigentumsrecht. Globalisierung sei weder neu noch notwendigerweise westlich noch ein Fluch. Wichtig sei das Entstehen einer globalen Solidarität – über kulturelle Grenzen hinweg. Die so genannte Globalisierungskritik, so Sen, „ist heute vielleicht sogar die globalisierteste moralische Bewegung in der Welt“.
Ein zutiefst humanes Buch, leicht lesbar und anschaulich geschrieben und allen „InterkulturalistInnen“ wärmstens ans Herz zu legen.
Amartya Sen:
Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt.
Ch. Beck, München 2007, 208 Seiten, € 20,50